I. - Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm – Meine Kindheit zwischen Obstbäumen
Schon im Alter von drei Jahren durfte ich mit dem kleinen Plantagentraktor der LPG Kayna (bei Zeitz) durch die Apfelreihen fahren – vorbei an den Sorten RoBa und Herma. Noch lange vor der Ernte gab es für mich bereits einen tagreifen Klarapfel von einem versteckten, für die Befruchtung zuständigen Baum, der sich scheinbar heimlich in die endlosen Spindelreihen der Geußnitzer Apfelplantage geschlichen hatte.
Meine Eltern waren ab den 1970ern Teil eines neuen Versorgungsauftrags der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften in der damaligen DDR. Obst hatte einen hohen Stellenwert, und man setzte auf innovative Anbaumethoden. Forschungseinrichtungen wie Müncheberg und Pillnitz unterstützten den modernen Obstbau. Spindelbäume in bequemer Höhe und ertragreiche Sorten mit internationalem Flair bestimmten das Bild der Obstplantagen: Clivia, Gelber Köstlicher, Idared, Shampion, Carola, Macintosh, Jonagold und James Grieve.
Ein Obstgarten mit Familientradition
Mein Vater, damals ein junger Obstbauer, wurde von der Leidenschaft für Äpfel gepackt. Er pflanzte etwa 25 Bäume in unseren Garten – und holte auf wundersame Weise bis zu zwei Tonnen Äpfel pro Jahr. Besonders die Sorte Carolaleuchtete prächtig mit einer roten und einer gelben Seite, sodass selbst Schneewittchen schwach geworden wäre. Auf dem Wochenmarkt waren sie begehrt und zu Hause galten sie als wertvolle Weihnachtsäpfel.
Auch von der Sorte Herma pflanzte er einige Bäume. Diese Äpfel waren zunächst säuerlich, entwickelten aber nach der Lagerung bis Februar ein wunderbares Aroma und glänzende rote Wangen. Der Gelbe Köstliche, damals eine der bedeutendsten Handelssorten, wurde bei uns optimal geerntet und gelagert – herrlich gelb, süß, saftig und mit einem feinen Bananenaroma. Für meinen Geschmack fehlte ihm jedoch die Säure.
Von Apfelkuchen bis zum Trabbi
Der James Grieve war ein besonderer Apfel in unserer Familie. Schon Anfang September war er erntereif und eignete sich perfekt für den ersten Apfelkuchen der Saison. Sein intensives Aroma und die angenehme Säure machten ihn zu einem Favoriten. Manchmal fanden wir noch spät im Jahr einen vergessenen „Grieve“ am Baum, der ein wahres Geschmackswunder war.
Dann zog der Shampion in unseren Garten ein. Mein Vater verschenkte ihn gerne als kleinen Gruß an Freunde und Verwandte – oder tauschte ihn geschickt gegen schwer beschaffbare Konsumgüter ein. Besonders süß, knackig und optisch ansprechend, verkaufte sich diese Sorte hervorragend. Ohne ihn hätte ich vermutlich meinen ersten Trabbi nicht bekommen.
Mein persönlicher Favorit war jedoch der Alkmene. Blieb er etwas länger am Baum, entwickelte er ein intensives Fruchtaroma. Ich konnte mehrere hintereinander essen, ohne genug zu bekommen. Neben einer angenehmen Säure klebten meine Hände vom süßen Saft beim Reinbeißen – diesen Apfel liebe ich bis heute.
Das Erbe der alten Obstbäume
Schon früh lernte ich das Pfropfen von meinem Vater. Ich staunte über die Vielfalt an einem einzigen Baum. Mit dieser Technik konnten wir in unseren Gärten auf engstem Raum fast alle gängigen Obstsorten ernten. Später nutzte ich diese Fähigkeit, um einen ungenutzten Apfelwildling auf dem Schulhof zu veredeln – was mir eine glatte „1“ in Biologie einbrachte.
Tradition versus moderne Obstwirtschaft
Damals wusste ich noch nichts von der intensiven chemischen Behandlung der meisten modernen Sorten. Mein Vater, ein erfahrener Obstbauer, kannte die Schwächen der sogenannten „verbesserten“ Sorten nur zu gut. Sie mussten mehrfach im Jahr mit Fungiziden und Insektiziden behandelt werden. In der DDR sprach man damals wenig über alternative Anbaumethoden – Hauptsache, die Obstproduktion war gesichert.
Doch die alten Obstbäume hatten ihre eigenen Strategien zur Krankheitsresistenz. Diese sogenannten „Altobst“-Bestände waren oft robust und benötigten keinen intensiven Pflanzenschutz. Viele dieser Bäume wuchsen noch auf alten Streuobstwiesen, an Feldwegen oder in vergessenen Gärten. Ihre Früchte waren geschmacklich einzigartig – ein Kontrast zu den genormten Supermarktäpfeln von heute.
Die Ernte der alten Hochstämme
Das Pflücken von Hochstamm-Obst war oft ein Abenteuer. Die alten Bäume waren kaum gepflegt, und das Ernten glich manchmal einer Zirkusnummer. Leitern von bis zu acht Metern Länge waren notwendig, um die besten Früchte zu erreichen. Erfahrene Pflückerinnen konnten bis zu 25 Körbe Kirschen am Tag ernten. Die Arbeit war anstrengend, aber lohnend – und oft von Geschichten der alten „Öbstler“ begleitet.
Die verborgenen Schätze der alten Sorten
Ich erinnere mich an unzählige Entdeckungstouren durch die Obstplantagen und Streuobstwiesen. Die Geschmacksvielfalt der alten Apfelsorten war unvergleichlich. Wer einmal einen perfekt gereiften Alkmene, eine goldgelbe Goldparmäne oder einen vollmundigen Landberger Renette gekostet hat, weiß, warum sich der Erhalt dieser Sorten lohnt.
Zum Glück wachsen viele dieser alten Apfelsorten auch heute noch auf unserem Ferienhof Trassenheide. Hier kann jeder den einzigartigen Geschmack vergangener Zeiten erleben.

